Älter werdende Anlagen haben gewöhnlich eine Unmenge von Betriebsdaten in ihren Archiven gespeichert. Maschinelles Lernen kann diesen Datenfriedhof, der gewöhnlich für kaum mehr als nur für hübsche Grafiken verwendet wird, in ein dynamisches mathematisches Modell für den Verarbeitungsprozess einer Anlage umwandeln. Das Modell kann errechnen, wann und wo bestimmte Geräte in Zukunft außer Betrieb gehen, oder auch anzeigen, wie bestimmte Sollwerte verändert werden müssen, um die Anlagenleistung zu verbessern. algorithmica wurde vor dreizehn Jahren von dem Mathematiker Dr. Patrick Bangert gegründet, der daranging, die Kluft zwischen der akademischen Mathematik und der Prozessindustrie zu überbrücken. Das Motto der Firma, „simply intelligent“, spiegelt das Ziel wider, die eigenen Kunden von der Komplexität der Mathematik zu verschonen und gleichwohl mit Hilfe von intelligenten Methoden einfache Antworten auf hochkomplexe Fragen zu geben.
Dies ist die Titelgeschichte von April 2018 in Managing Aging Plants.
Es war das enorme Potenzial der Mathematik, insbesondere das maschinelle Lernen, das Dr. Bangert bewog, seinen Job als Mathematikprofessor an der Jacobs-Universität in Bremen (Deutschland) aufzugeben und darüber nachzudenken, wie man die angewandte Mathematik außerhalb der Universität einsetzen könne. „Es war nicht leicht, den Elfenbeinturm zu verlassen und sich auf die industrielle Wirklichkeit einzulassen“, meint Bangert. Der Nutzen, maschinelles Lernen auf Betriebsanlagen der Chemie, der Energieerzeugung und der Öl- bzw. Gasindustrie anzuwenden, ist jedoch beträchtlich. „Das erste, was sich zeigte, war, dass man das maschinelle Lernen für die vorausschauende Instandhaltung (engl. predictive maintenance) anwenden konnte. Das bedeutet, dass maschinelles Lernen vorherzusagen vermag, wann ein Maschinenteil versagen wird.
Das bisher übliche Condition Monitoring schaut sich jeden Messwert gesondert an und legt jeweils fest, ob er zu niedrig oder zu hoch ist – verglichen mit zuvor spezifizierten Grenzwerten. Diese Methode führt erwiesenermaßen zu vielen falschen Alarmen; aber auch zu Maschinenausfällen, die kein Alarm ankündigen konnte. Außerdem ist der Vorgang, die Grenzwerte zu spezifizieren, zeitaufwändig und bürokratisch.
Maschinelles Lernen bietet hingegen eine holistische Analyse an, die schnell und präzise den jeweiligen Zustand der Maschine anzeigt und Vorhersagen über mögliche Ausfälle machen kann, etwa dass für den kommenden Donnerstag gegen zwölf ein Ausfall droht. Indem Ausfälle aufgespürt werden, bevor sie tatsächlich eintreten, können die Verfügbarkeit und auch die jährliche Produktivität der Anlage gesteigert und gleichzeitig das Wartungsbudget gesenkt werden.
Weil viele Anlagen heutzutage weitaus länger laufen als ursprünglich geplant, ist deren Wartung ein riesiges Problem geworden. „Die Wartung alternder Anlagen ist die größte Herausforderung“, sagt Dr. Bangert. „Je älter die Anlage ist, umso öfter gehen Maschinenteile kaputt – und umso öfter müssen Reparaturarbeiten vorgenommen werden.“ Die Instrumente von algorithmica können vorhersagen, ob ein ungesunder Zustand bald eintritt. „Bei Prozessanlagen kann man deshalb auf die üblichen prophylaktischen Wartungen ebenso verzichten wie auch auf viele Notfallmaßnahmen für den Fall, dass eine Maschine tatsächlich zusammenbricht.“ Das Wichtigste dabei sei aber, so Bangert, „dass keine Kollateralschäden mehr eintreten, weil man das kranke Maschinenteil ersetzen kann, noch bevor die Maschine auseinanderfliegt und großen Schaden anrichtet.“ Mit anderen Worten: „Kann man eine Maschine reparieren, bevor sie kaputtgeht, kostet es den Anlagenbetreiber X Euro. Wartet man, bis die Maschine kaputt geht, kostet es zehnmal X Euro.“
Dirk Puethe, technischer Leiter der Firma Ashland, sagt: „Ashland nutzt die Optimierungs-Sofware APO in seiner Formaldehyd-Produktionsanlage in Marl, Deutschland, um den finanziellen Gewinn zu steigern und das Aufschäumen zu verhindern. Es gibt also ein Riesenpotenzial, mithilfe einer Änderung von verschiedenen Sollwerten den Gewinn zu steigern.“
Der Erfolg dieser Methode konnte bereits in vielen Industrieanlagen bestätigt werden – bei rotierenden und nicht-rotierenden Teilen von Gas-, Dampf- und Windturbinen, bei Kompressoren, Pumpen, Wärmetauschern, Destillationskolonnen und Ventilen (siehe Grafik 3). Diese Methode kann leicht und schnell an jeder Anlage ausprobiert werden, denn erforderlich ist lediglich das Aufspielen einer Software. Die Modelle werden allein aufgrund der bereits vorhandenen historischen Messdaten erstellt.
Was ist maschinelles Lernen? Die künstliche Intelligenz bedient sich der natürlichen Sprache, geht es ihr z. B., dass ein Computer Ihnen nach Durchsicht einer Website gewisse Anleitungen erteilt. „Beim maschinellen Lernen hingegen“, so Bangert, „geht es vielmehr um numerische Daten. Beispiel: Wenn Sie an Ihrer Raffinerie 20.000 Sensoren angebracht haben und Sie anhand der historischen Messungen eine Formel erstellen möchten, mit deren Hilfe Sie die Dynamik der Raffinerie steuern wollen, dann bedarf es dafür des maschinellen Lernens. Maschinelles Lernen verarbeitet Zahlen. Künstliche Intelligenz verarbeitet Worte.“ Maschinelles Lernen sei der Schlüssel für die von algorithmica angebotenen Problemlösungen und Optimierungen. Das heißt, dass diese Formeln automatisch generiert werden – ohne Zutun von Experten. Mehr Informationen darüber bietet Bangerts Buch „Optimization for Industrial Problems“ (Springer Verlag) oder die Website von algorithmica. (www.algorithmica-technologies.com). Gerne kann man sich auch direkt mit Dr. Bangert in Verbindung setzen, unter: p.bangert@algorighmica-technologies.com.
Die Modelle des maschinellen Lernens werden auch dazu verwendet, die Leistung einer Anlage zu verbessern. „Eine Fertigungsanlage hat viele Sollwerte, mit deren Hilfe der Anlagenbediener die Anlage kontrolliert. Es ist Aufgabe des Anlagenbedieners, die Sollwerte gemäß veränderten äußeren Bedingungen einzustellen, um eine optimale Produktion zu gewährleisten“, sagt Dr. Bangert. „Die äußere Welt beeinflusst den Fertigungsprozess sowohl durch das Wetter als auch durch die in die Anlage eingespeisten Rohmaterialien.“ Letztere ändern sich in Punkto Qualität und Zusammensetzung je nach Hersteller, so dass das Verhalten der Anlage entsprechend neu justiert werden muss. Der menschliche Bediener verändert die Einstellungen nach seiner eigenen Erfahrung und macht dabei in der Regel einen sehr guten Job – aber nicht immer den optimalen.“
Bei einer Anlage muss man auch berücksichtigen, dass es Schichtarbeit gibt. „Eine Anlage läuft meist 24 Stunden sieben Tage die Woche, so dass man bis zu acht verschiedene Gruppen von Bedienern hat, welche die Anlage beaufsichtigen“, fährt Bangert fort. „Und jedes Mal, wenn die Schicht wechselt, werden gewöhnlich auch die Einstellungen geändert. Aber die Anlage ist riesig, und es bedarf nach den Neueinstellungen in der Regel mehrerer Stunden, bis die Anlage wieder ausbalanciert ist und stabil läuft. Acht Stunden später kommt die nächste Schicht und verändert die Einstellungen erneut. Auf diese Weise befindet sich die Anlage in einem nahezu permanenten Veränderungszustand, der aber selten den optimalen Betriebsverlauf darstellt. Für die optimalen Einstellungen bedarf es einer konsistenten operationalen Philosophie, die 24 Stunden am Tag gültig ist; und dafür brauchen wir ein Computerprogramm“.
Zusätzlich zur vorausschauenden Instandhaltung und zur Optimierung, bietet algorithmica noch weitere Problemlösungen an. Eine davon ist der Intelligent Soft Sensor. Obwohl sich das wie etwas Handfestes anhört, handelt es sich auch hier um eine mathematische Formel. Dr. Bangert erläutert: „In der Verarbeitungsindustrie ist es manchmal sehr schwierig oder zu teuer, etwas zu messen. Ein wichtiges Beispiel dafür ist die Gas-Chromatographie, die nicht nur sehr teuer, sondern auch sehr empfindlich ist. Sie versagt oft, besonders unter schwierigen Bedingungen. In einem solchen Fall wird man bestimmte Zustände eher berechnen als tatsächlich messen wollen. Und die Frage ist: Kann man den Zustand berechnen, wenn andere Variablen zur Verfügung stehen, die man leicht und günstig messen kann? Hierfür kommt der Soft-Sensor ins Spiel.“
Dr. Bangert berichtet, dass er in den letzten anderthalb bis zwei Jahren eine revolutionäre Entwicklung in der Industrie beobachtet habe. „Praktisch alle Unternehmen in der Chemie, Energieerzeugung, in der Öl- und Gasindustrie haben Abteilungen gegründet, die sich mit den Themen Digitalisierung, Industrie 4.0, Internet of Things (IoT) usw. befassen.“ Diesen Abteilungen stehen zwei Optionen zur Verfügung: Entweder entwickeln sie ihre eigenen Methoden und setzen diese dann überall in ihrem Unternehmen ein; oder sie kaufen Tools von außerhalb und fungieren dann als die Berater, die solche Tools anwenden. „Die meisten entscheiden sich zunächst dafür, ihre eigenen Instrumente zu entwickeln, entdecken aber rasch, dass dies sehr zeitaufwändig und teuer ist“, so Bangert. „Kauft man jedoch die Tools von außerhalb, kann man sie sofort einsetzen, sich drei bis vier Jahre Entwicklungszeit sparen und sich zudem weiterhin voll auf sein Kerngeschäft konzentrieren. Hinzu kommt, dass eine Softwarefirma viele Kunden hat, von denen sie Feedback erhält, so dass die Software viel schneller effizienter und ausgereifter sein wird, als dies mit einem Eigenprodukt der Fall wäre.“ Das wiederum ist eine gute Nachricht für algorithmica, das sein Geschäftsfeld gern erweitern würde. „Neben unserem Herkunftsmarkt Europa konzentrieren wir uns auf den amerikanischen Markt, auf dem wir seit ca. anderthalb Jahren tätig sind. Auch in Deutschland wollen wir jetzt richtig loslegen.“
K+S betrachtet sich als ein kundenorientiertes, unabhängiges Bergbauunternehmen für die Bereiche Landwirtschaft, Industrie, Verbraucher und Kommunen. Es betreibt zahlreiche Anlagen, um Kali- und Salzprodukte herzustellen. Kali-Erz kann nicht in seiner Rohform genutzt werden, sondern muss zuvor veredelt (raffiniert) werden. Als letzte Stufe dieses Raffinationsverfahrens muss das Kaliumchlorid gewaschen werden, damit die gewünschte Qualität des Endproduktes erreicht wird. Danach wird es getrocknet und für den Versand gelagert. Diesen Waschvorgang optimiert die Software von algorithmica. Je nach Qualität des Rohmaterials muss K+S verschiedene Sollwerte anpassen. Ein Teil des Prozesses ist zudem zyklisch. Um diesen Prozess zu kontrollieren, haben sich die Bediener bisher auf ihre Erfahrung verlassen. Die Software macht jedoch einen noch besseren Job, so dass die Qualitätskriterien des Endproduktes immer eingehalten werden und man sogar ein wirtschaftliches Optimum erreicht. Carsten Laukner ist der Programm-Manager von K+S in der Abteilung „Digitale Transformation“ in der Zentrale in Kassel. Er sagt: „Dank des Einsatzes der Prozessoptimierungs-Software von algorithmica konnten wir in unserer Kali-Anlage in Unterbreizbach signifikante Verbesserungen in der Prozessstabilität und der Produktqualität feststellen. Die Software kam leicht und schnell zum Einsatz und wurde von den Bedienern als nützlicher Ratgeber angesehen.“